Zum 80. Geburtstag von Winfried Wehle:
Wozu Literatur? Welch hochgemute Antworten sich auch anführen ließen: sie gehen alle auf den selben Grund zurück: wo immer es Sprache gab, hat es auch Sprachkunst gegeben. Offenbar kann die eine ohne die andere nicht leben. Was hat seit Menschengedenken so viele dazu bewegt, sich literarisch mitzuteilen? Vor allem aber: warum wird dieses Gesprächsangebot millionenfach angenommen? Liegt es daran, dass Literatur anders mit der Sprache umgeht, die wir sind und so die Freiheit – das Vergnügen – verschafft, sich selbst gleich bleiben und dennoch anders sein zu können? Etwas anderes kommt hinzu. Würde sie sich so lange als kulturelles Gut halten, wenn sie nicht auf ein ganz ursprüngliches Interesse einginge: auf die Frage, die zu allen Zeiten klärungsbedürftig war, weil sie sich ein für alle Mal nicht beantworten lässt: Was ist der Mensch? Gewiß, ein ganzes Heer von Wissenschaften hat sich seiner angenommen, um seiner Natur Klarheit abzuringen – je näher zur Moderne, desto zudringlicher. Doch würde er sich in allem auch verstanden wissen, wenn der Verstand diesen Menschen in seinem dunklen Drange, wie der Dichter sagt, ganz aufgeklärt hätte? Klarheit über ihn ist nicht auch schon die Wahrheit über ihn. Vieles, was ihn bewegt, was er begehrt und sich vorstellt, entzieht sich dem Maß des Denkvermögens.
Dennoch muß es nicht stumm bleiben. Es spricht uns nur anders an: nicht mit Begriffen, terminologisch, systemisch, sondern in Bildern, Gleichnissen, Geschichten, Einbildungen. Sie verbreiten einen eigenen Zauber. Er teilt auf seine emphatische Weise etwas mit, das möglich, aber nicht notwendig ist. Ihn breitet Literatur auf der Bühne ihrer Zeichen aus. Dass sie dabei mit den schnellen, gierigen Bildwelten des Films, des Videos konkurriert, muß kein Nachteil sein. Verglichen mit ihnen ist sie zwar ein armes Medium. Zudem verlangsamt es die Wahrnehmung. Doch das ist ihre Art, Zeit zu gewinnen: die kargen, alphabetischen Ketten ihrer Schrift mindern den Zugriff der Sinne und schaffen Raum für einen höheren Sinn. Kein Kunstwerk, das nicht etwas mitteilen wollte, selbst wenn es sich dabei unsinnig, ungegenständlich oder unverschämt gebärdet. Es ist seine Weise, hinter die Façaden des Selbstverständlichen, Gedankenlosen und Gewohnheitsmäßigen zu kommen. Selbst wenn seine Wahrheiten nur das Uneigentliche an dem aufdecken, was wir für Wirklichkeit halten, macht es Platz für Vorstellungen, wie es anders sein könnte. Welche Bedeutung ihnen zukommt, zeigt sich gerade auch daran, dass sich um literarische Werke früh eine eigene Schriftgelehrsamkeit und Buchkultur gebildet hat. Beide leben davon, dass deren alternative Vernunft es wert ist, verallgemeinert und bewahrt zu werden. Schon deshalb, weil auch Literatur gelernt – und gepflegt sein will, wenn sie mehr sein soll als nur affektives Grundnahrungsmittel.
Dazu bedarf es Aufmerksamkeit. Etwa dafür, wie sie Zeichen der Zeit identifiziert und sie verbindet. Dadurch kann auffällig werden, was sie bedeuten wollen. Wäre dann aber nicht Interpretation die gemeinnützigste Aufgabe von literarischer Kritik und Wissenschaft? Vermittlung, Hermeneutik, ihr Weg und Anthropologie ihr Ziel? Erst recht gilt dies für Texte, die räumlich und zeitlich von weit her kommen. Und selbst wenn sie europäisch nah sind, treten sie doch anders auf. Könnte literarische Kritik sich dem Leser aber wirklich vermitteln, wenn sie ihm nicht lesbar entgegenkommt? Gewiß, sie hat das freie literarische Wort (und am besten auch ihre Tätigkeit selbst) in ihren Deutungen und Wertungen zu kontrollieren. Das ernüchtert zweifellos das ästhetische Wohlgefallen. Andererseits ist es nur um diesen Preis möglich, der Literatur ein Mitspracherecht im Wertbildungsprozess der Öffentlichkeit zu sichern.
An diesem Rahmen orientieren sich die im Einzelnen aufgeführten Studien. Eines ihrer Untersuchungsgebiete konkretisiert sich am Werk Dantes, Petrarcas und Boccaccios. Sie treffen sich in der Entdeckung der Sprache als der unhintergehbaren Bedingung eines Denkens, das den Menschen vom Menschen her erfassen will, ein ‚linguistic turn’ vor der Zeit. In ihm regt sich bereits eine frühhumanistische Zeichenlust – concupiscentia signorum. Sie steht in Verbindung mit einer zweiten, großen Errungenschaft. Die lügnerische Dichtung und mit ihr die Volkssprache sieht sich dadurch aufgewertet zu einem eigenen Mittel der Wahrheitsfindung – eine Herausforderung für damalige Theologie und Philosophie. Um 1500 hat sich neuzeitliches Bewusstsein davon in mehreren literarischen Kunstwelten ein programmatisches Abbild geschaffen. Eine davon sammelte exemplarische Begebenheiten der historischen Lebenspraxis in der offenen Form der Novellistik. Ihre Fallstudien vermessen einen Spielraum des Menschenmöglichen, um zu einer ‚ars vivendi’ zu kommen. Eine andere literarische Welt ging in Arkadien auf. Hinter den anmutigen Liebeshändeln von Schäfern und Nymphen geht es allerdings um nichts Geringeres als um einen Kopfsturz der bisherigen Anthropologie: wie lässt sich die Venus-Seite der menschlichen Natur, ihr kreatürliches Begehrungsvermögen, positiv ins Bild des Menschen aufnehmen. Hier fand insofern eine – neuzeitliche – Entdeckung statt, als Kunst sich offen als gesellschaftlicher Ort in Szene zu setzen wusste, an dem höchst artifiziell für die Kunst geworben werden konnten, natürlich zu sein. Selbst wenn in der Folgezeit das Denkvermögen sein Vorrecht wieder durchsetzte: es hat in den heftigen Auseinandersetzungen um das ‚merveilleux’, das Erhabene und die Phantasie (Vico) den Aufstieg der Imagination in eine Leitfunktion der Erkenntnis nicht verhindern können.
Ihr Schwellenereignis war die romantische Revolution der Künste, die eine erste Moderne aus sich entließ. Ihr gilt eine Reihe von Annäherungen, die jetzt unter dem Dach von Modernität zusammengeführt werden und sich der Entzauberung einer nicht mehr schönen und nachahmenswerten Welt und den Folgen zu stellen hat. Der Aufstand der Künste in den historischen Avantgarden radikalisiert den Bruch mit allem, was ihnen vorausging. Die technisch, wissenschaftlich und industriell bestimmte Zivilisation zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde zum Auslöser von Experimenten, die sich bis hin zum abstrakten Kunstwerk, ja zur Anti-Kunst vorwagten. Ihre provokativen Gesten hatten jedoch System: Sie wollten eine Schule des Un-Verstandes sein, eine intellektuelle Befreiungsbewegung, die die Käfige der Konvention in unseren Köpfen entsperrt und uns in kontingentes Denken einübt, allemal das Mittel zu kreativer Selbsterfahrung. Einer ihrer Wegbereiter was Mallarmé mit seinem Manifest „Un coup de dés“ (Studie in Vorbereitung). Der Wiederaufbau der Literatur nach dem Zusammenbruch des Zweiten Weltkriegs hatte den Prozeß der Moderne von einem kulturellen Nullpunkt neu aufzunehmen. Eine seiner Auffanglinien war der Nouveau Roman. Seine kantigen Anziehungen, Abstoßungen und Sprachexerzitien brachten Literatur als militante Gegenspielerin der stummen Enteignungen in Stellung, die Systemzwänge aller Art bis hin zum Gemeinplatz ausüben. Ihr kritisches Amt sollte Schule machen. Nicht zuletzt können dies die rund hundert Feuilletons, namentlich von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart belegen. Eine ihrer großen Beunruhigungen porträtiert das Buch „Wann bin ich schon Ich. Literarische Nahaufnahmen des 20 Jahrhunderts“. Vgl. die Publikationen im einzelnen.